Patrick Laurenz Kohl

Institut für Tierökologie und Tropenbiologie, Universität Würzburg
Wilde Honigbienenvölker – es gibt sie doch

 

Seit der Wiederausbreitung von Laubwäldern nach dem Ende der letzten Eiszeit ist die Westliche Honigbiene (Apis mellifera L.) natürlicher Bestandteil der mitteleuropäischen Wildfauna. Spätestens im Mittelalter jedoch begann der Mensch das Leben der Honigbienen maßgeblich zu beeinflussen. Waldgebiete wurden großflächig gerodet und die Bienenhaltung in Kisten und Körben gewann gegenüber der Waldbienenzucht (Zeidlerei) und der Jagd nach wildem Honig an Bedeutung, so dass sich der Lebensraum der Honigbienen in den agro-urbanen Raum verschob. Die Erfindung von Bienenstöcken mit beweglichen Wabenrähmchen vor etwa 150 Jahren ermöglichte schließlich einen tiefen Einblick in das bisher verborgene Stockleben der Bienen und erlaubte deren gezielte Manipulation. Dank dieser Technik ist die Honigbiene ein flexibel einsetzbares Nutztier zur Honigproduktion und Bestäubung in der Agrarlandschaft, sowie wichtiger Modellorganismus in der Forschung geworden. Allerdings hat diese Entwicklung ihren Preis: Mit dem vermehrten Transport von Bienenvölkern in der ganzen Welt kam es zur Einfuhr invasiver Parasiten, allen voran der Milbe Varroa destructor. Heute stimmen Bienenforschern und Imker in der Annahme überein, dass Honigbienenvölker in Mitteleuropa ohne die gezielte Behandlung mit Medikamenten nicht mehr dauerhaft überleben können. Die Erzählung, dass „unsere“ Bienen von imkerlicher Pflege abhängig sind, ist so tief in unseren Köpfen verankert, dass der Titel dieses Vortrags eine gewisse Spannung erzeugt; dass es die Honigbiene noch als Wildtier geben soll, passt wenig in unser Bild.

Wenn wir jedoch etwas Abstand nehmen vom hiesigen Bienenstand, können wir einen gänzlich anderen Eindruck bekommen. In den meisten anderen Erdregionen ist völlig klar, dass es wilde Honigbienenbienen gibt, handele es sich um natürliche oder um von Siedlern eingeführte Populationen. Wenn wir die Honigbienen in Europa betrachten, sehen wir, dass die natürliche Verbreitung der geographischen Unterarten trotz Kreuzungszucht und Handel von Königinnen immer noch eindeutig Bestand hat. Neue Untersuchungen zeigen außerdem, dass unsere Bienen weitaus stärker an lokale Standortbedingungen angepasst sind als angenommen, und es gibt etwa ein halbes Dutzend dokumentierte Fälle von Europäischen Honigbienenpopulationen, die – sich selbst überlassen – durch natürliche Selektion Resistenzen gegenüber Krankheiten und Parasiten entwickelt haben. Der Gedanke daran, dass die Paarung von Königinnen und Drohnen außerhalb unserer Kontrolle in der Luft stattfindet, und dass jährlich tausende Schwärme von Bienenständen abwandern und sich verselbstständigen, verdeutlicht, dass unsere Bienen immer noch weitaus wilder sind als wir meinen.

Am Ende sind es vor allem zwei Gründe, warum unser Bild vom Schicksal wilder Honigbienen verzerrt sein könnte. Auf der einen Seite ist es zweifelhaft, unsere imkerlichen Maßstäbe auf die wilden Honigbienen zu übertragen. In der Imkerei dreht sich alles um das einzelne (Wirtschafts-)Volk. Der Bestand soll über die Jahre möglichst wenig schwanken; wir erwarten von jedem Volk einen gewissen Honigertrag und wir halten das einzelne Volk für praktisch unsterblich. Stirbt das Volk im Winter, so ist dies ein Unglück und wir haben als Imker versagt. Ein wildes Volk wird zwar weder gefüttert noch gegen Krankheiten behandelt, muss aber auch keine Bienenprodukte an den Imker abgeben. Auch wenn es im zweiten oder dritten Winter stirbt – hat es bis dahin mindestens einen erfolgreichen Schwarm produziert, bleibt die Population wilder Völker erhalten.

Auf der anderen Seite mangelt es schlichtweg an Daten. Tatsächlich gab es bisher keine Studie über das Vorkommen wilder Honigbienenvölker in Deutschland, weder vor noch nach der Invasion der Varroamilbe. Ironischerweise stammt nahezu unser gesamtes Wissen über das Leben wilder europäischer Honigbienen aus den Studien des amerikanischen Bienenforschers Prof. Thomas Seeley, der seit Jahrzehnten die verwilderten Honigbienen im Arnot Wald im Staat New York beobachtet.

Mit diesen Gedanken und durch die Erkenntnisse von Prof. Seeley ermutigt, führten mein Kollege Benjamin Rutschmann und ich in den Sommern 2016 und 2017 die erste systematische Kartierung wilder Honigbienenvölker in Deutschland durch. Das Ergebnis aus unseren Aufenthalten im Nationalpark Hainich und im Biosphärengebiet Schwäbische Alb: Wild lebende Honigbienenvölker kommen in unseren Wäldern weitaus häufiger vor als bisher angenommen. Es zeigte sich, dass alte Schwarzspechthöhlen wichtige Nistplätze darstellen, und dass auch Höhlen tief im Wald, mehrere Kilometer vom nächsten Bienenstand entfernt besiedelt sind.

Es gibt also auch heute noch zwei Gruppen von Honigbienenvölkern: Die von Imkern gehaltenen und die wild Lebenden. Diese Unterscheidung beruht allein auf den Lebensumständen und der Ökologie, denn alle Honigbienenvölker stehen über die Paarung von Jungköniginnen und Drohnen im genetischen Austausch. Auch kann ein Volk vom Bienenstand abwandern und in den Bestand der wilden Völker übergehen. Die Frage ist also nicht mehr, ob es sie gibt, die wilden Honigbienen. Die Frage ist, ob die Lebensumstände es ihnen erlauben, stabile Populationen zu bilden, und welche der Schlüsselfaktoren Nistplatzangebot, Nahrungsverfügbarkeit, Prädation und Krankheit ihr Überleben limitieren. Die Rechnung ist einfach: Ist die Reproduktionsrate gleich oder höher als die Sterberate, ist die Population wilder Honigbienen selbsterhaltend. Wir werden in den nächsten Jahren viel beschäftigt sein, diese Populationsparameter empirisch zu ermitteln. Bis dahin, machen sie die Augen auf und wenn sie ein wild lebendes Volk entdecken, bleiben sie entspannt! Auf Grundlage aller bisherigen Erkenntnisse ist es unwahrscheinlich, dass die wilden Nachbarn eine Gefahr für die eigenen Bienen darstellen. Genießen Sie einfach die Schönheit des Anblicks eines wilden Biens!